Norbert Nedopil
Gekränkte Eitelkeiten
Terroristische Einzelkämpfer
Forschungsansätze und deren Probleme
Motive und Ziele von Terroristen
Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2014) 8:246–253 DOI 10.1007/s11757-014-0290-3
Gekränkte Eitelkeiten
Terroristische Einzelkämpfer
Norbert Nedopil
Eingegangen: 30. Juli 2014 / Angenommen: 22. August 2014 / Online publiziert: 23. September 2014
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014
Zusammenfassung Ziel des Terrors ist nicht (nur) die Schädigung von individuellen Menschen, sondern die Verunsicherung und Ängstigung der Gesellschaft, die deswegen Schaden nimmt. Dieser Sekundärschaden ist meist wesentlich größer als der Primärschaden. Diese Zielsetzung des Terrors verfolgen nicht nur extremistische Organisationen und Gruppen, sondern auch terroristische Einzelkämpfer.
In den letzten 100 Jahren wurden in der westlichen Hemisphäre Hauptlehrer Ernst August Wagner, der amerikanische „Unabomber“ Theodore John Kaczynski, der österreichische Briefbombenleger Franz Fuchs und der norwegische Massenmörder Anders Behring Breivik international als terroristische Einzelkämpfer bekannt. Franz Fuchs wurde vom Autor begutachtet; zum Hintergrund seiner Taten kann aus eigener Anschauung Stellung genommen werden. Informationen über die anderen Täter zeigen aber gewisse Parallelen zu jenen Persönlichkeitszügen und Entwicklungsschritten des Österreichers, die für die Taten bedeutsam waren, namentlich biografisch lange Zeiten fehlender sozialer Resonanz, Zurücksetzung und Kränkung, sozialer Rückzug und autistische Abgrenzung, Entwicklung einer pseudopolitischen (Größen)idee, Versuch der Durchsetzung dieser Idee durch Schrecken, Bedrohung und Verängstigung der Öffentlichkeit sowie Bestätigung der eigenen Bedeutung durch die umfassende öffentliche Aufmerksamkeit, die die Verunsicherung schürt.
Interessant sind bei den terroristischen Einzelkämpfern dieses Kalibers ebenso wie beim Terrorismus von Staaten, Organisationen und Gruppen, nicht nur Struktur und Dynamik der Täter, sondern auch, wie sich Aktion des Terroristen und Reaktion der Gesellschaft gegenseitig verstärken und dem Täter helfen, sein Ziel zu erreichen.
Schlüsselwörter Gesellschaftliche Reaktion · Hauptlehrer (Ernst) August Wagner · Theodore Kaczynski · Anders Behring Breivik · Franz Fuchs
Im Talmud heißt es:
“Gedanken werden Worte. Worte werden Handlung. Handlungen werden Gewohnheiten. Gewohnheiten werden Charakter. Der Charakter ist dein Schicksal.”
Das gilt nicht nur für den Täter, sondern auch für die Reaktion der Gesellschaft. Erst aus der Interaktion entsteht das wahre Ausmaß des Schadens.
Definitionsversuche
Versucht man, sich wissenschaftlich mit dem Phänomen der Massentötung auseinanderzusetzen, so ist zunächst eine Differenzierung erforderlich. Eine Reihe von Begriffen wird in den Medien und in der Literatur nebeneinander verwendet, zumeist unscharf benutzt und häufig vermengt. Haller [9] hat versucht, die häufig verwendeten Begriffe Amok, Terrorismus, Massaker, „school shooting“, erweiterter Mord bzw. erweiterter Suizid zu definieren: Amok kommt aus dem Malaiischen, von „amuk“ (wütend, rasend); dabei handelt es sich um eine „plötzliche, willkürliche, nichtprovozierte Gewaltattacke mit mörderischem oder zumindest erheblich zerstörerischem Verhalten und häufigem Umschlag in eine suizidale Reaktion“. Terrorismus kommt vom lateinischen Terror (Furcht, Schrecken) und bezeichnet Gewaltaktionen gegen eine (politische) Ordnung mit dem Ziel, eine Wende zu erzwingen. Massaker kommt vom Altfranzösischen „macacre“ (Schlachthaus). Es bezieht sich auf einen gezielten Massenmord unter besonders grausamen Umständen bei kriegerischen Auseinandersetzungen (meist durch einen Einzeltäter). Unter School shooting versteht man den Gebrauch von Schusswaffen innerhalb einer Schule oder im Umfeld einer Schule, meist durch einen gegenwärtigen oder ehemaligen Schüler dieser Schule. Mit erweitertem Suizid werden Handlungen bezeichnet, bei denen eine Person eine oder mehrere Menschen seines Nahbereichs und dann sich selbst tötet. Kaum einer der Begriffe wird in der Praxis und in den Medien präzise verwendet.
Forschungsansätze und deren Probleme
Ebenso vielschichtig wie die Begriffe sind auch die Hypothesen zur Entstehung von Massentötungen und die Methoden, mit denen versucht wird, sie zu erforschen. Naturgemäß sind – insbesondere in Anbetracht der Seltenheit der vorkommenden Fälle – kasuistische Analysen die am häufigsten angewandten Forschungsansätze. Daneben spielt – insbesondere bei toten Tätern – die psychologische Autopsie [13][14][20] eine bedeutsame Rolle. Darüber hinaus wird eine Vielzahl soziologischer und kriminologischer Hypothesen von verschiedenen Autoren aufgeworfen [1][2][12][17], z. B. über die Bedeutung von Schusswaffen [3] als wichtige Bedingungsfaktoren für Massentötungen oder über die Modellfunktion von Videofilmen oder Videospielen [18] u.a.m.
All diese Methoden bergen Gefahren und Fehlermöglichkeiten: Kasuistische Betrachtungen verführen zu Übergeneralisierungen, psychologische Autopsien sind anfällig für Fehlinterpretationen, und hypothesengeleitete Ansätze sind häufig einseitig durch die Interessen der Autoren bestimmt. Zudem sollte die Gefahr nicht übersehen werden, dass tatsächliche Unterschiede verwischt werden, wenn versucht wird, mehrere heterogene Einzelfälle zu einem typologischen Gesamtbild zu verdichten. Aus Sicht des Autors erscheint es deshalb zunächst erforderlich, die Einzelfälle möglichst differenziert zu analysieren und auch bei dem Versuch von Verallgemeinerungen bestimmte Unterscheidungen zu berücksichtigen, z. B. zwischen Männern und Frauen (über Frauen als Täterin gibt es wenig Informationen, da lediglich 5 % der Massentötungen von Frauen begangen werden), zwischen Jugendlichen und Erwachsenen sowie zwischen Einzelund Gruppentätern. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Massentötungen in Friedenszeiten trotz aller medialen Aufmerksamkeit und dem dort vermittelten Eindruck einer Zunahme von Massentötungen relativ selten und nach dem 2. Weltkrieg in gleichbleibender Häufigkeit vorkommen, nämlich seltener als einmal pro 1.000.000 Männerjahre.
Differenzierungen
Will man das Phänomen der Massentötungen unter psychopathologischen Aspekten erfassen, ist eine Reihe von Differenzierungen erforderlich. So finden sich zwischen jugendlichen und erwachsenen Tätern in einigen Bereichen deutliche Unterschiede, die in Tab. [1] zusammengefasst sind. In Bezug auf die Jugendlichen werden in vielen Veröffentlichungen die Täter und die Taten von Columbine als Matrix für die Genese ihrer Handlungen gesehen. Dabei werden folgende Aspekte in den Vordergrund gerückt: Das soziale
Tab. 1 Biografische und psychopathologische Unterschiede zwischen jugendlichen und erwachsenen Tätern bei Massentötungen
Jugendliche | Erwachsene |
Narzisstisch, zurückgezogen | Paranoisch-querulatorisch |
Als Kind ängstlich, selbstunsicher, fühlen sich psychisch |
gestört | Einzelgängerisch, 30% Schizophrenie |
Familiäre Kälte, erhaltene Fassade, Einsamkeit, Frauenhass | Abbrechen sozialer Brücken |
Drohungen ca. ½ Jahr vor der Tat, Tagebücher, „postings“ | Detaillierte Planung mit jahrelangem Vorlauf |
Zwei Drittel begehen Suizid | Ein Drittel begeht Suizid nach der Tat |
Mediale Vorbilder (Columbine), soziale Netzwerke | Nur begrenzt Vorbilder und mediale Verstärkung |
Waffenaffinität | Waffenaffinität |
Tab. 2 Psychopathologische Unterschiede zwischen terroristischen Einzel- und Gruppentätern
Einzeltäter | Gruppenmitglieder |
Überdurchschnittlich intelligent | Sehr heterogen, häufig nicht überdurchschnittlich intelligent |
Sensitiv, paranoid, narzisstisch | Heterogen, jedoch Gefühl der Benachteiligung, Gruppenkohärenz als Selbstwertstabilisierung |
Überdurchschnittliche Ausbildung, Arbeitslosigkeit | Heterogen, Arbeitslosigkeit |
Sexuelle Abstinenz | Heterogen |
Umfeld ist beeinträchtigt durch gestörte Familienbeziehungen und durch Zurückweisungen und Abgrenzungen in der Peergroup und bei den Erziehern. Die Täter zeichnen sich durch Selbstwertund Männlichkeitsprobleme aus: Sie erleben ihre Sexualität als beeinträchtigt. Sie ziehen sich zurück, grübeln, entwickeln Wut und Hass, entwerten ihr soziales Umfeld und finden sich wieder in einem Kreislauf von Kränkungen, Groll und Rachegelüsten, die schließlich in Tötungsfantasien übergehen. Ihre Fantasien werden durch entsprechende Medien verstärkt. Ihre Motive enthalten das Verlangen nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, und ihre medialen Vorbilder verleiten zur Nachahmung und zur Rechtfertigung des eigenen Verhaltens.
In Gruppen agierende Terroristen unterscheiden sich von Einzeltätern sowohl bezüglich ihres Hintergrunds als auch bezüglich ihrer Intention (Tab. [2]). Zudem finden sich bei den in Gruppen auftretenden Akteuren üblicherweise folgende Besonderheiten: Die meisten Täter folgen einer isolierten Gruppenideologie, die mit uniformer Rhetorik und absolutem Denken verbunden ist. In den Gruppen findet sich eine eigene Dynamik zwischen den Mitgliedern, die Außeneinflüsse kaum noch möglich macht. Diese interne Gruppenkohärenz wird durch extreme Verdrängungsmechanismen begünstigt. Die Gruppenideologie vermittelt den Tätern Omnipotenzgefühle und wird zur überwertigen Idee, die durch charismatische Führungsgestalten verstärkt wird.
Die einzelnen Gruppenmitglieder zeichnen sich häufig durch chronische Identitätskrisen, durch partnerschaftliche Probleme, durch Egozentrizität und Narzissmus aus. Häufig findet sich bei ihnen ein hohes Aggressionspotenzial.
Motive und Ziele von Terroristen
Ziele des Terrorismus sind die Verbreitung von Angst und Schrecken, das Aufzeigen der Ohnmacht der Verantwortlichen, die Verunsicherung und Ängstigung der Gesellschaft und die Demonstration eigener Macht und Stärke. Diese Ziele werden zunächst erreicht durch den Terroranschlag selbst, der in der Regel Tote und Verletzte zur Folge hat. Für Terroristen ebenso bedeutsam und für die Betroffenen nicht minder gravierend sind die Sekundärschäden, die in einer lang dauernden Verunsicherung der Gesellschaft, in den daraus resultierenden Kontrollmaßnahmen und Gegenreaktionen der Verantwortlichen bestehen und langfristig in einer Verhaltensänderung der Gesellschaft und ihrer Mitglieder münden. Dies wiederum zieht eine Einstellungsänderung der Gesellschaft und der einzelnen Bürger nach sich. So schreibt Gigerenzer [8], S. 22]: „Terroristen schlagen zweimal zu: Zuerst mit physischer Gewalt und dann mithilfe unserer Gehirne. Der erste Schlag zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich, der zweite Schlag hingegen bleibt fast unbemerkt. Nach dem 11. September 2001 haben es die Amerikaner vermieden, ein Flugzeug zu benutzen aus Angst vor terroristischen Anschlägen. In den Flugzeugen der Terrorattacke vom 11. September sind 256 Passagiere zu Tode gekommen; die Zahl der durch ihre Vermeidungsstrategien und die dadurch bedingten Autounfälle Getöteten wurde in den darauf folgenden 5 Jahren auf 1600 geschätzt. In dieser Zeit transportierten die amerikanischen Fluggesellschaften 2,5 Mrd. Passagiere. Nicht ein einziger starb durch einen Flugzeugabsturz“ [8].
Terroristische Einzeltäter
Diese Überlegungen gelten auch für terroristischer Einzeltäter. Sie werden im Gegensatz zu den Mitgliedern terroristischer Gruppierungen in der Literatur als überdurchschnittlich intelligent und gut ausgebildet beschrieben, haben aber häufig keine ihnen adäquat erscheinende Arbeit gefunden (Tab. [2]). Ihre Persönlichkeit zeichnet sich überwiegend durch paranoide und narzisstische Persönlichkeitszüge aus; auffallend ist bei ihnen – im Gegensatz zu Mitgliedern terroristischer Gruppierungen – auch eine lang dauernde sexuelle Abstinenz. Insofern sind die Ziele von Terroristen zwar ähnlich, die Einzeltäter unterscheiden sich aber bezüglich ihrer Persönlichkeit und ihrer Bedürfnisse von den Mitgliedern terroristischer Gruppierungen. Diese aus der Literatur übernommenen Überlegungen sollen anhand der bekannten und gut untersuchten Einzeltäter überprüft werden.
Terroristische Einzelkämpfer sind im Vergleich zu den Mitgliedern terroristischer Gruppierungen eine extreme Seltenheit. In den vergangenen 100 Jahren sind in der westlichen Hemisphäre lediglich 4 terroristische Einzeltäter bekannt geworden. Diese zeigen aber eine Reihe von Ähnlichkeiten, die im Folgenden herausgearbeitet werden sollen. Einer von ihnen, Franz Fuchs, wurde vom Autor persönlich und von Herrn Prof. Dr. Reinhard Haller untersucht. Seine Kasuistik wird ausführlicher dargestellt [10].
Die 4 terroristischen Einzeltäter sind Ernst August Wagner, der von 1874–1938 lebte und 1913 in Degerloch und Mühlhausen 17 Menschen tötete, Theodore John Kaczynski, geboren 1942, der in den Jahren 1978–1995 mit seinen Anschlägen Polizei und Öffentlichkeit in den USA verunsicherte, Franz Fuchs (1949–2000), der in Österreich von 1993 bis 1996 durch verschiedene Anschläge 15 Verletzte und 4 Tote forderte und schließlich Anders Behring Breivik, geboren 1979, der 2011 in Norwegen 2 Anschläge verübte, bei denen 77 Menschen starben und 43 verletzt wurden.
Ernst August Wagner
Ernst August Wagner, der als „Hauptlehrer Wagner“ in die psychiatrische Literatur eingegangen ist und für seinen Gutachter Robert Gaupp die Grundlage zur Beschreibung und Definition des Störungsbilds der Paranoia lieferte [6], erschlug am 04.09.1913 in Degerloch seine Frau und seine 4 Kinder und fuhr dann nach Mühlhausen, wo er nachts 4 Häuser anzündete, wartete, bis die Menschen vor den Flammen flüchteten, und auf sie schoss. Zwölf Menschen starben, und 8 weitere wurden schwer verletzt [5]. Wagner schrieb einen Bekennerbrief, den er „an mein Volk“ richtete und in dem er seine Taten rechtfertigte, und verfasste weitere Schriften, die eine äußerst radikale und Menschen verachtende Gesinnung zum Ausdruck brachten, z. B.:
Es ist des Volks viel zu viel, die Hälfte sollte man gleich totschlagen. Sie ist des Futters nicht wert, weil sie schlechten Leibs ist. [19]
Ebenfalls 1909 schrieb er:
Wir schiffen zu sehr übel riechenden Niederungen und müssen jetzt den Ballast auswerfen, um in reiner, gesunder Region zu schweben. Ich habe ein scharfes Auge für alles Kranke und Schwache, bestellt mich zum Exekutor … 25 Mio. Deutsche nehme ich auf mein Gewissen, und soll es nicht um kein Gramm schwerer belastet sein als zuvor. (Hauptlehrer Ernst August Wagner „Nationalsozialist der ersten Stunde“ 1909)
und in seinem Bekennerbrief ist zu lesen:
Ich verlange darum keine Nachsicht von euch, weil ich keine gegen euch walten lassen will. Ich will mir ein steinern Herz zulegen und eine Stirne von Demant. Ungehemmter Haß soll meine Pläne schmieden, und meiner Rache Wut soll jede Regung von Mitleid ersticken.
Wagner entstammte einer Landwirtschaft, er hatte 8 Geschwister, der Vater verstarb, als Wagner 2 Jahre alt war. In seiner Autobiografie schrieb Wagner: „Ich habe ihn oft verflucht darum, dass er mich in die Welt gesetzt hat“ [zit. nach [7]. Man habe über ihn gesagt: „Wagners Jakob sei ein eingebildeter unzufriedener Mensch, der besser täte, seinem Bauernwerk nachzugehen, als hinter dem Bierglas zu hocken.“ Die Mutter soll nach dessen Tod mehrere Liebhaber gehabt, einen unsoliden Lebenswandel geführt und ein außereheliches Kind zur Welt gebracht zu haben. Einige Biografen sahen darin eine Wurzel seiner abwertenden Einstellungen gegenüber der Sexualität. Er war von 1884 bis 1900 Lehrergehilfe, dann Unterlehrer, ab 1902 Lehrer und ab 1911 Oberlehrer. Wagners Frau wurde vorehelich schwanger, er wurde von seinen Vorgesetzten zur Rechenschaft gezogen und ehelichte die Frau, die zuvor seine Anträge abgelehnt hatte. Er war seit 1903 verheiratet und hatte 5 Kinder, von denen eins als Säugling starb.
Seine Tat hatte er über mehrere Jahre zuvor geplant. Er hatte sich Pistolen und Munition besorgt und Schießübungen im Wald durchgeführt. Nach seiner Tat wurde er festgenommen. Der noch 1913 begonnene Strafprozess wurde 1914 ohne Verurteilung abgebrochen, weil er wegen seiner Wahnkrankheit für nichtzurechnungsfähig gehalten wurde. Er wurde in das psychiatrische Landeskrankenhaus Winnenden eingewiesen, wo er 1938 an Tuberkulose starb.
Wagner war ein sehr belesener Mensch, der neben seinen Hassschriften auch vor und nach seiner Tat Versdramen verfasste. Von manchen Vorgesetzten und Kollegen wurde er als überlegen, stolz, empfindlich, eitel, dünkelhaft, höflich und gradlinig bezeichnet. Freunde hatte er nicht. Gaupp beschrieb in seinem Gutachten einen höflichen Mann mit guten Manieren, der sich bereitwillig untersuchen ließ.
Wenngleich die Taten Wagners durch seinen Wahn, wegen seiner sodomistischen Praktiken von der Umwelt geächtet zu sein, begründet scheinen, so kann auch Wahnentstehung biografisch nachgezeichnet werden. Er löste sich durch eine berufliche Fortentwicklung aus einem von ihm als misslich und beschämend erlebten Elternhaus, das er verachtete. Er entwickelte aufgrund seines Zuwachses an Bildung ein überzogen dünkelhaftes Selbstbild, fühlte sich aber wegen eines sexuell abweichenden Verhaltens (er bezeichnete sich selber als „Sodomit“– er hatte wohl in den Jahren 1901 bis 1902 sich im Stall an Kühen befriedigt), bei dem er sich beobachtet glaubte, ausgegrenzt und beschämt und war letztendlich wegen der ausbleibenden Beförderung gekränkt und glaubte, dass er von seinem Umfeld, das von seinen sexuell devianten Verhalten wusste, verspottet und missachtet werde. Überzogenes Selbstbild, eigene Normabweichung und Kränkung hatten den Nährboden für die zur Tat führende paranoide Entwicklung bereitet.
Theodore Kaczynski
Ein weiterer Fall eines terroristischen Einzeltäters ist Theodore Kaczynski, der als Unabomber bekannt wurde. Kaczynski (Jahrgang 1942) wuchs als Sohn polnischer Einwanderer in Chicago auf. Er erhielt mit 16 Jahren wegen seiner schulischen Leistungen ein Stipendium am Harvard College, nachdem er zuvor in der High School 2 Klassen übersprungen hatte. Er lebte relativ zurückgezogen und galt als ausgesprochen ungesellig. Er studierte in Harvard und an der University of Michigan Mathematik und wurde dort und später in Kalifornien Assistenzprofessor. Im Jahr 1969 kündigte er ohne weitere Erklärung und zog sich 1970 in die Berge von Montana zurück, wo er in einer selbst gebauten Holzhütte als Einsiedler lebte. Von 1978 –1995 beging er 16 Bombenattentate; in den Jahren 1985,1994 und 1995 forderten diese Attentate Todesopfer. Enttarnt wurde er, weil er ein Manifest schrieb, das veröffentlicht wurde und in dem die Schwester von Kaczynski den Schreibstil ihres Bruders erkannte. Im Jahr 1998 wurde er zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Kaczynski bezeichnete sich als Anarchist, er gab an, Mitglied einer Gruppe (Freedom Club) zu sein, die Briefbomben verschicke [15]. Er versandte 1995 anonym sein 35.000 Worte umfassendes Manifest Die industrielle Gesellschaft und ihre Zukunft (Unabomber Manifest). Er erklärte darin, dass er die Bombenattentate beenden werde, falls sein Manifest in einer überregionalen Zeitung veröffentlicht würde. Er begründete seine Attentate damit, dass er die Welt davor bewahren wolle, durch die Technisierung in die Abhängigkeit von Eliten zu gelangen, die die Menschen manipulieren würden [4]. Passagen daraus finden sich auch bei späteren terroristischen Einzelkämpfern (Fuchs, Breivik) wieder. Beispiele aus seinem Manifest lesen sich wie folgt:
1. ,,Die Folgen der Industriellen Revolution haben sich für die Menschheit als eine Katastrophe erwiesen. Unsere Lebenserwartung ist dadurch in den „fortgeschrittenen“ Ländern bedeutend gestiegen, gleichzeitig aber trat infolgedessen eine Destabilisierung der Gesellschaft ein, das Leben wurde unerfüllt, die Menschen gerieten in eine unwürdige Abhängigkeit, diese Entwicklung hat zu weit verbreiteten psychischen Problemen geführt (in der Dritten Welt auch zu organischen Krankheiten) und der Natur wurde unermesslicher Schaden zugefügt. Die kontinuierliche Entwicklung der Technologie wird die Lage weiter verschlimmern. Mit Sicherheit wird die Menschheit in noch größerem Maße abhängig warden und es werden noch gewaltigere Naturschäden auftreten. Wahrscheinlich werden sich die soziale Entwurzelung und die psychologischen Probleme noch verstärken und schließlich auch in den „fortgeschrittenen“ Ländern zu einem Anstieg von Krankheiten führen.
1. …
1. Aber auch wenn das System zusammenbricht, werden die Folgen sehr schmerzhaft Je stärker aber das System sich entwickelt, umso katastrophaler werden die Folgen des Zusammenbruchs sein. So wäre ein schneller Zusammenbruch des Systems wünschenswerter als zu einem späteren Zeitpunkt.
1. Deshalb treten wir für eine Revolution gegen das industrielle System Diese Revolution kann mit oder ohne Gewalt durchgeführt werden, sie kann plötzlich auftreten oder sich in einem längeren Prozess über mehrere Jahrzehnte vollziehen. Wir sind nicht in der Lage, das vorauszusagen. Aber wir werden ganz allgemein die Maßnahmen skizzieren, damit die Gegner des industriellen Systems den Weg für eine Revolution gegen diese Form der Gesellschaft vorbereiten können“.
Anders Behring Breivik
Der jüngst zurückliegende Fall war jener des Anders Behring Breivik, der am 22.07.2011 ein Bombenattentat in Oslo beging, bei dem 8 Menschen starben, und anschließend auf der Ferieninsel Utoya 69 meist jugendliche Menschen mit einem automatischen Gewehr erschoss. Darüber hinaus wurden 43 Menschen bei den beiden Anschlägen körperlich erheblich verletzt. Auch über das Leben von Breivik wissen wir relativ viel: Er wurde 1979 geboren, seine Eltern trennten sich ein Jahr später; er lebte zunächst mit der Mutter in Oslo, kam mit 2 Jahren in eine pädagogische Teilzeiteinrichtung, galt als schwieriges Kind und wurde mit 4 Jahren kinderpsychiatrisch untersucht. Er wurde als vernachlässigtes Kind beschrieben, das unfähig sei, sich emotional auszudrücken. Weitere behördliche Maßnahmen sind nicht bekannt. Er besuchte das Gymnasium, das er jedoch ohne Abschluss verließ. Er beschäftigte sich mit Marketing, gründete kleinere Firmen, blieb aber wirtschaftlich ohne Erfolg. Er soll mit illegalen Geschäften größere Mengen Geld verdient haben, das er durch Börsenspekulationen größtenteils wieder verloren haben soll. Anders Behring Breivik gewann Anschluss an rechtsradikale und insbesondere an islamfeindliche Kreise und war Mitglied einer norwegischen Freimaurerloge. Vor seinen Attentaten verfasste Breivik unter einem Pseudonym ein 1500-seitiges Manuskript mit dem Titel 2083: A European Declaration of Independence, in dem er sich als „commander“ einer angeblichen Nachfolgeorganisation der Tempelritter bezeichnete. Er kopierte einige Passagen des Manifests von Theodore Kaczynski und rechtsradikaler sowie antiislamistischer Autoren in sein Manuskript, in dem es u. a. heißt:
Wir schauen darauf, was unsere Vorväter … taten und stellen fest, dass wir Europa nur retten können, wenn wir die Prinzipien unserer Vorfahren annehmen… Vorwärts, christliche Kämpfer!
Vor dem Attentat stellte Breivik auch ein Video ins Netz, in dem er sich ebenfalls als Commander der Tempelritter bezeichnete.
In einem ersten psychiatrischen Gutachten über Breivik wurde die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie gestellt, die jedoch als sehr umstritten galt und heftig kritisiert wurde. In einem zweiten Gutachten wurde die Diagnose einer narzisstischen und antisozialen Persönlichkeitsstörung gestellt [11][16][21][22][23]. Ein weiterer als Sachverständiger hinzugezogener Psychiater äußerte den Verdacht, dass Breivik an einem Asperger-Syndrom leide.
Unabhängig von den möglichen psychiatrischen Diagnosen ist aus distanzierter Sicht die Abkehr von einem als beeinträchtigend erlebten primären sozialen Umfeld erkennbar, die zunehmende soziale Isolierung, die Flucht in Größenvorstellungen, die im Gegensatz zu der realen Lebenswirklichkeit steht. Es kann angenommen werden, dass die Diskrepanz zwischen subjektiven Größenideen und der objektiven Lebenswirklichkeit zu kontinuierlichem Kränkungserleben führte, wodurch die destruktiven Impulse immer wieder verstärkt wurden.
Franz Fuchs
Franz Fuchs wurde als älterer von 2 Brüdern (+ 11 Jahre) und als Sohn eines Fassbinders und Frührentners in Gralla, einer 2000 Einwohner zählenden ländlichen Gemeinde in der Südsteiermark, geboren. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, besuchte an seinem Heimatort die Grundschule, in der die Lehrerin ihn als besten Schüler, den sie je gehabt habe, bezeichnet haben soll. Er wechselte nach der 4. Klasse als Fahrschüler ins Gymnasium im 5 km entfernten Leibnitz, wo er einige Jahre Klassenbester war und 1968 die Matura machte. Anschließend leistete er seinen Wehrdienst ab; er hatte in dieser Zeit ein einziges Mal eine Freundin. Ein begonnenes Studium konnte er aus finanziellen Gründen nicht fortsetzen. Er ging 1970 zunächst zu VW nach Wolfsburg und anschließend zu Daimler nach Stuttgart, wo er jeweils am Fließband arbeitete. Dort lebte er in möblierten Zimmern, fand nur begrenzt Anschluss an Arbeitskollegen und hatte keine darüber hinausgehenden Bekanntschaften. Als er in Stuttgart kein berufliches Fortkommen sah, kehrte er 1976 in seine Heimat zurück und bezog eine Einliegerwohnung in seinem Elternhaus, in der er auch von seiner Familie weitgehend isoliert lebte und kaum Besuche zuließ. Er fand 1977 eine Arbeit bei einem
Geometer, die er 1984 nach dem Tod des Chefs verlassen musste. Nach vorübergehender Arbeitslosigkeit und der Annahme von Gelegenheitsarbeiten trat er 1985 eine Stelle in einem Ingenieursbüro an, wo er bis zu seiner Kündigung 1989 blieb. Seine letzte Arbeitsstelle fand er bei den Steirischen Elektrizitätswerken. Auch hier war die Arbeit nach wenigen Jahren beendet.
Seine Wohnung hatte er die ganze Zeit bei seinen Eltern. Er verreiste kaum und hatte außer oberflächlichen Bekanntschaften in seinem Heimatort und flüchtigen Kontakten mit Arbeitskollegen nur zu seiner Herkunftsfamilie eine nähere Beziehung. Aber auch seine Familienangehörigen wussten wenig von ihm.
Beziehungen zu Menschen außerhalb der Familie beschränkten sich auf vorübergehende oberflächliche Kontakte. Intime Partnerschaften gab es nach 1970 nicht.
Am 01.10.1997 zündete Franz Fuchs bei einer zufälligen Polizeikontrolle eine Rohrbombe, die seine beiden Hände abriss. Er wurde verhaftet und im März 1999 zu lebenslanger Haft verurteilt. Im Februar 2000 erhängte er sich in seiner Zelle.
Seine terroristische Karriere begann Franz Fuchs 1993. Im Dezember explodierte ein Brief, als der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk diesen öffnete. Acht weitere Prominente, die sich ebenso wie Zilk für die Rechte von ethnischen Minderheiten in Österreich einsetzten, erhielten vergleichbare Briefe. Im August 1994 wurde eine Rohrbombe in einer deutsch-slowenischen Schule in Klagenfurt gefunden. Dem Polizisten, der diese Bombe entschärfen wollte, wurden beide Hände weggerissen. Im Oktober 1994 kam es zu einer zweiten Briefbombenserie, die an Organisationen und Arbeitgeber gesendet worden war, die Ausländer beschäftigten oder für deren Rechte eintraten. Personenschaden trat durch diese Bomben nicht ein. Im Februar explodierte eine Rohrbombe in einer Romasiedlung in Oberwart, die 4 Tote und einen Schwerverletzten forderte. Im Juni 1995 wurde eine dritte Serie von Briefbomben verschickt, die u. a. an die dunkelhäutige Fernsehmoderatorin Arabella Kiesbauer und an den stellvertretenden Lübecker Bürgermeister gerichtet waren, deren Mitarbeiter sich beim Öffnen der Bombe verletzten. Die 4. Briefbombenserie im Oktober 1995 richtete sich an ausländische Ärzte sowie an Flüchtlingsorganisationen und führte ebenfalls zu Verletzungen. Im Dezember des gleichen Jahres wurde die Öffentlichkeit durch die 5. Briefbombenserie aufgeschreckt. Sie traf das Flüchtlingskommissariat der UN und ausländische Partnervermittlungen. Die Briefbombe der 6. Serie war im Dezember 1996 an die Stiefmutter des damaligen österreichischen Innenministers gerichtet, konnte aber von der Polizei entschärft werden.
Wenn man die Auffälligkeiten und deren Entwicklung bei Franz Fuchs nachzeichnet, so ist zunächst zu erkennen, dass er sich von Kindheit an und durchgehend als Außenseiter erlebte: Als Kind in seiner Heimatgemeinde teilte er nicht die Interessen seiner Altersgenossen und konnte, durfte oder wollte mit diesen nicht mithalten. Als er 11-jährig in das Gymnasium der Großstadt kam, wurde er wegen seines ländlichen Dialekts und eines Sprachfehlers verspottet. Er konnte sowohl aus finanziellen wie aus zeitlichen Gründen mit den Schulkameraden aus der Stadt keine Beziehungen knüpfen und fühlte sich ausgegrenzt, was er bis zum Schluss als besondere Kränkung in Erinnerung behielt. Seine subjektiv empfundene Minderwertigkeit kompensierte er durch die Überzeugung der intellektuellen Überlegenheit, die er mit übernachhaltigem, fast zwanghaftem Wissenserwerb zu bestätigen trachtete. Eine Kommunikation seiner Bedürfnisse, Wünsche oder Kränkungen war ihm aufgrund seiner schizoiden und zwanghaften Wesensart einerseits und aufgrund des mangelnden Interesses im Elternhaus an seiner akademischen Entwicklung andererseits nicht möglich. Ein Zugehörigkeitsgefühl zu irgendeiner Gruppe außerhalb der Familie entwickelte er nicht. Er fühlte sich in Bezug auf seine besonderen intellektuellen Fähigkeiten verkannt.
Eine weitere Kränkung erfuhr Franz Fuchs, als ihm nach Gymnasium und Militärdienst ein Stipendium, das ihm die Fortsetzung seines Universitätsstudiums ermöglicht hätte, versagt wurde, obwohl er sich intellektuell den anderen Kandidaten überlegen fühlte, für sich ein Anrecht auf ein Stipendium reklamierte und finanziell auf das Stipendium angewiesen war. Er fühlte sich in Österreich benachteiligt und ging nach Deutschland. Seine Arbeit in Wolfsburg und Stuttgart konnte er zunächst noch als Praktikum akzeptieren, nahm sie jedoch mit zunehmender Dauer als Hilfsarbeiterjob wahr. Es verletzte ihn tief, als ein türkischer Fließbandarbeiter wegen dessen Funktion als Dolmetscher befördert wurde, er als Abiturient aber nicht. Als er deswegen nach Österreich zurückkehrte, empfand er sich als Versager und beging einen Suizidversuch, der zur Einweisung in die Psychiatrie führte. Diese „Psychiatrisierung“ nahm Franz Fuchs als extreme Kränkung wahr. Als er anschließend eine Anstellung bei dem Geometer gefunden hatte, erstarkte sein Selbstbewusstsein wieder, und er gewann die Überzeugung, dass er der wichtigste und gewissenhafteste Mitarbeiter der Firma sei, der deswegen und wegen seiner intellektuellen Überlegenheit niemandem Rechenschaft schulde und der mit den Mitarbeitern keine persönlichen Kontakte pflegen brauche. Er blieb isoliert, und sein Privatleben blieb verborgen. Nach seiner Entlassung blieb ihm eine gleichwertige Arbeitsstelle längere Zeit verwehrt, und auch als er sie fand, kam es zu ähnlichen Schwierigkeiten wie bei dem Geometer, bis er schließlich keinen Arbeitgeber mehr fand.
Die Schwierigkeiten an den Arbeitsstellen und die fehlende Anerkennung bedingten seinen Groll. Als Ursache erkannte er, dass man ihm die akademische Ausbildung versagt, während man Ausländern großzügige finanzielle Unterstützung gewährt hatte. Er entwickelte einen Hass auf Fremde und noch mehr auf jene, die Fremde unterstützten.
Als 1987 in Österreich ethnische Minderheiten die österreichische Volkszugehörigkeit erhielten, wurde er hellhörig und misstrauisch. Als ihm 1989 an einer Arbeitsstelle gekündigt wurde, gleichzeitig der Eiserne Vorhang fiel und ein Zustrom osteuropäischer Immigranten befürchtet wurde, hatte Franz Fuchs einerseits die Befürchtung zum Sozialfall zu werden, andererseits die Überzeugung, sich für die Rechte deutschsprachiger Österreicher einsetzen zu müssen. Er zog sich zunehmend zurück und verschanzte sich in der Einliegerwohnung im elterlichen Anwesen. Am 29.07.1993 entschied er sich, aktiv zu werden, nachdem er im Hörfunk ein Interview mit einem Vizeleutnant des Bundesheeres gehört hatte, der über das bedauernswerte Schicksal der Jugoslawienflüchtlinge sprach. Er schrieb in diesem Zusammenhang einen Hörerbrief und begann, seine ersten Briefbomben zu basteln.
Damit begann die Bombenserie, die sich dadurch auszeichnete, dass die Bomben unterschiedlich konstruiert, unterschiedlich deponiert waren und auch unterschiedliche Adressaten trafen, selbst wenn das Ziel in einer gleichbleibenden Idee begründet war. Die dahinterliegende Strategie bestand in einer Aufrechterhaltung des Bedrohungsszenarios bei gleichzeitiger Verschleierung der Täterschaft; eine Taktik, welche die die Verunsicherung bei Ermittlungsbehörden, Medien und Bevölkerung verstärkt und somit zur Dämonisierung des Terroristen beiträgt. Als am 25.10.1996 der damalige österreichische Bundeskanzler Vranitzky zurücktrat, war Fuchs der Überzeugung, dies bewirkt zu haben. Er wähnte sich am Ziel seines (terroristischen) Handelns und gewann ab diesem Zeitpunkt (fälschlicherweise) die Überzeugung, entdeckt zu sein. Er erwartete seine Ergreifung, bastelte Sprengfallen und eine Rohrbombe, mit der er sich suizidieren wollte, falls die Polizei zu ihm kommen würde. Diesen Plan versuchte er umzusetzen, als er zufällig bei einer Verkehrskontrolle angehalten wurde und festgenommen zu werden glaubte. Zuletzt verkannte Fuchs somit die Realität, er war zur einer Relativierung erst wieder begrenzt in der Lage, als er mit den tatsächlichen Ermittlungen konfrontiert wurde.
Aus psychiatrischer Sicht bestand das Motiv für seine Anschläge nicht nur in einer Ausländerfeindlichkeit, sondern auch in dem Bedürfnis, seine intellektuelle Überlegenheit zu beweisen. Seine Bomben waren so raffiniert gebaut mit wechselnden Konstruktionsschemata, die bisher in Terroristenkreisen nicht bekannt waren, dass die Ermittler davon ausgingen, dass es sich um mehrere Täter handelte, die spezielle Ausbildungen genossen hatten. Seine Briefe waren gespickt mit historischen Details, sodass auch diesbezüglich Fachleute als Autoren der Schreiben vermutet wurden. Als nach der Ergreifung mutmaßlicher rechtsradikaler Verdächtiger im Januar 1994 Briefe der Bajuwarischen Befreiungsarmee (BBA) gefunden wurden, wurde eine rechtsradikale Terrorgruppe hinter den Anschlägen vermutet.
In seinen Bekennerschreiben, die er als BBA verfasste, stellte er sein Insider-Wissen über die Ermittlungen, sein detailliertes geschichtliches Wissen ebenso zur Schau, wie seinen Hass gegen Ausländer, z. B.: „In diesem Land sind Personen willkommen, die aussehen wie wir, die beten wie wir und die sprechen wie wir.“ Aber: „Sie alle sind ahnungslos und glauben, dass wir herumstreunende Mediterrane, Asiaten, Afrikaner und Heiden sowie unsere Herrenkaste der Tschuschen voll akzeptieren.“
Aufgrund der Vielseitigkeit seines Wissens und der Fehlerlosigkeit seiner Schreiben glaubten manche, dass hinter den Briefbombenserien mehrere Personen stecken müssten, andere vermuteten ein Genie, einen Chemiker, einen Mathematiker, einen Germanisten und ein historisches Superhirn, das mit den Heldenahnen der „Bajuwaren“ eng vertraut war (Zeit online 2011, Ausgabe 31).
Franz Fuchs hatte aus subjektiver Sicht viel erreicht: Das Basteln raffinierter Briefbomben, deren Technik auch Fachleute nicht verstehen, empfand er als Bewunderung seines Wissens und Könnens. Die Ohnmacht der Ermittler und deren Vorgesetzten zeigte seine eigene Macht, die Angst und Verunsicherung in Behörden machte seine Überlegenheit deutlich, mit der er die anderen einschüchtern konnte, die mediale und politische Beachtung schürte die narzisstische (existenzielle) Aufwertung der eigenen Bedeutung: Er war selber die BBA und wurde für so gewichtig wahrgenommen wie eine ganze Truppe.
Diese Sekundäreffekte waren ihm weit wichtiger als die konkreten Schädigungen der Menschen, die er verletzte oder tötete.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt N. Nedopil gibt an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt. Dieser Beitrag enthält keine Studien an Menschen oder Tieren.
Literatur
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